Das Phänomen der „Arbeit“ (2012)

Liebe Abiturientinnen, liebe Abiturienten,

liebe Eltern,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

gerne komme ich der Bitte des diesjährigen Abiturjahrgangs nach, die Abiturrede zu halten. Es ist mir eine Freude und Ehre, heute Abend an diesem Festtag zu sprechen. Dies ist gerade deshalb so, weil ich gehört habe, dass die Entscheidung für mich als Redner demokratisch gefallen ist.

Bei den Vorbereitungen kam ich ins Grübeln. Begleitet vom Johlen und Heulen meiner Kinder schlenderte ich durchs Wohnzimmer:

  • Welchen Charakter sollte die Rede haben? – Braucht sie Lacher und Pointen, Dramaturgie oder Komik?
  • Welche Frage- und Themenstellungen wären angemessen? – Passt vielleicht „Schulzeit als Krisenzeit“ in Anspielung auf die Eurokrise?„Lehrjahre und Herrenjahre“ unter Bezug auf die bekannte Redensart?
  • Welche Erwartungen würden an meine Aussagen geknüpft? – Große, kleine oder vielleicht keine?
  • Was möchte ich persönlich den ehemaligen Schülerinnen und Schülern auf ihrem Weg mitgeben? – Lebensweisheiten? Lehren? Träume?

Noch während mich diese Gedanken beschäftigten, fiel mein Blick auf einen Turm aus Legosteinen, der sich mitten im Raum entwickelte.

Daneben saß mein Sohn, vertieft im Aufeinanderstapeln der einzelnen Elemente. „Was machst du da?“, fragte ich. „Das ist eine Baustelle und das ist der Arbeiter!“, sprach er zufrieden zu mir aufblickend und spielte mit dem Turm und einer kleinen Figur weiter.

Diese kleine Anekdote soll den Ausgangspunkt meiner Überlegungen am heutigen Abend sein. In ihr ist ein Aspekt angesprochen, um den meine folgenden Ausführungen kreisen werden, nämlich

um das Phänomen der „Arbeit“!

Jeder der hier in der Aula des Theodor-Heuss-Gymnasiums Anwesenden weiß, dass kaum ein Begriff im Schulalltag so häufig auftaucht, wie der der „Arbeit“:

  • „Nächste Woche steht sie an, die nächste Klassenarbeit…“, hörte ich kürzlich noch einen Lehrer sagen.
  • „Aufgabe 3 machte ganz schön viel Arbeit…“, klagten die Schüler*innen aus der 9ten.
  • „Machen wir auch mal eine Stationenarbeit?“, fragten Mitte des Schuljahrs erwartungsvoll die 6er.
  • Be-ar-bei-tet den euch vorliegenden Text nach dem euch bekannten Verfahren…“, forderte ich unzählige Male von den Schülerinnen und Schülern der beiden Geschichtskurse, die ich 2011/12 unterrichten durfte.

Doch!

Obwohl der Begriff „Arbeit“ unseren Alltag durchzieht, ist er nicht ganz so einfach zu fassen und zeigt, je nach Verwendung, andere Nuancen. Häufig wird er als Affektwort benutzt. Dies bemerken wir, wenn wir uns Sätze wie

„Also wirklich, das ist irrsinnig viel Arbeit …“ 

oder

„Das ist ja Schwerstarbeit…“

vergegenwärtigen.

Hier schwingt ein ungutes Gefühl, eine negative Bedeutung, im Wortgebrauch mit. „Arbeit“ wird als Last, Qual oder Mühe angesehen. Wortgeschichtlich lässt sich eine derartige Verwendung bis in den älteren deutschen Sprachgebrauch zurück verfolgen. So lässt sich das Wort„Arbeit“ aus dem germanischen Wort arba“ Knecht herleiten.

Ich denke, jeder der Anwesenden kennt diese Form der „Arbeit“. Sie bedrängt uns, gibt uns das Gefühl nicht mehr selbstbestimmt zu handeln. Diese „Arbeit“ lässt uns keine Wahl. Sie widerfährt uns und tritt uns als Zwang gegenüber. Bei diesem Tun fühlen wir uns nicht mehr eins mit uns und unserer „Arbeit“. Die Zeit scheint plötzlich stehen zu bleiben. Langeweile und Eintönigkeit schleichen sich ein. Solche „Arbeit“ lässt uns schnell an die Freizeit oder die„Zeit danach“ denken. Dies kennen Sie alle auch – oder gerade – aus Schule und Unterricht.

Die persönliche Beziehung zur „Arbeit“ ist jedoch eine andere,

  • wenn der Einzelne selbst Herr über die Ziele seiner Anstrengung ist,
  • wenn er Handlungsfreiheit besitzt,
  • ihm Optionen geboten werden,

und er kurz gesprochen „die Wahl“ hat.

Sobald der Zweck des eigenen Handelns, ein einsichtiges „Wofür“ für den Einzelnen erkennbar ist, dann können wir uns im wahrsten Sinne des Wortes in die „Arbeit stürzen“. Auch wenn zuweilen der Zweifel diese Spielart begleitet, wird „Arbeit“ zur persönlichen Aufgabe und das Ergebnis zur persönlichen Leistung und das Produkt zum Werk. Sicher habt ihr und haben Sie schon den begeisterten Ausruf gehört:

„Schau, das hier ist meine Arbeit!“

In diesem Beispiel sind alle drei eben genannten Bedeutungen zu finden.

„Arbeit“ meint hier Aufgabe, Leistung und Werk zugleich. Diese Bedeutung des Begriffs der „Arbeit“ steht dem des „Schaffens“ näher.

„Arbeit“ wird bejaht und für gut befunden. Aus historischer Sicht ist diese Verwendung wenig verwunderlich. Die sprachliche Entwicklung des positiv besetzten Begriffs der „Arbeit“ deutet auf den prähistorischen Übergang von der Sammler- und Jägerkultur zur Ackerbau- und Handwerkskultur um 10 000 v. Chr. hin. Sie spiegelt sich in der Herleitung des Wortes „Arbeit“ aus dem Lateinischen arvum „Ackerland“ wider.

So gesehen können wir sagen:

Nur der Mensch, das vernunftbegabte Lebewesen, vermag in diesem Sinn zu arbeiten, sein Leben arbeitend in Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt zu gestalten.

Friedrich Engels schreibt dazu:

„Arbeit ist [eigentlich, A.K.] die erste Grundbedingung des Lebens, und zwar in einem solchen Grade, dass wir in gewissem Sinne sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst erschaffen. [1]Friedrich Engels: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, online: http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_444.htm [Zugriff: 22.04.2021]

Sicher, Engels Deutung des Begriffs der „Arbeit“ hat hier eine gesellschaftspolitische Dimension. Eine ideologiekritische Auseinandersetzung wäre angebracht. Doch dafür reicht heute Abend die Zeit kaum.

Herausheben möchte ich, was indirekt und jenseits aller Entfremdung über den Menschen und seine Beziehung, seine „relatio“, zur „Arbeit“ in dieser Aussage deutlich wird.

In der selbst bestimmt gewählten „Arbeit“ kann der Mensch eine Aufgabe und – vielleicht sogar – zu sich selbst finden.

Ich komme zum Schluss.

Wir haben uns zwei unterschiedliche Konzepte zum Phänomen der „Arbeit“ angesehen:

  • „Arbeit“ als Mühsal und auferlegte Last auf der einen,
  • „Arbeit“ als Prozess des Schaffens und der Selbstverwirklichung auf der anderen Seite.

Nicht dass Sie mich in dieser polarisierenden Gegenüberstellung falsch verstehen. Bestimmt gab und gibt es Übergänge sowie Mischformen.

Manches mühsam und „qualvoll“ Erarbeitete erschließt sich für den Einzelnen – manchmal erst in der Nachbetrachtung – als wichtig, bedeutsam und sinnhaft. Nicht alles fällt uns zu; manches müssen wir hart erarbeiten, bearbeiten und abarbeiten. In manchen Phasen des Lebens ist das täglich so. 

Es wird – so wage ich vorherzusagen – auch euch, liebe Abiturientinnen und Abiturenten, so gehen, dass ihr euch auch zukünftig manchmal zur „Arbeit“  hin selbst überwinden müsst. Insofern hängen Schule und Leben tatsächlich eng zusammen.

Und das ist für den Lernort Schule gut so und ich denke, dass ihr an unserer Schule, dem Theodor-Heuss-Gymnasium in Sulzbach, gelernt habt, auch mit den weniger liebsamen Formen der „Arbeit“ angemessen und „professionell“ umzugehen.

Zum Schluss möchte ich euch mitgeben, dass ihr nun – am Ende der gymnasialen Laufbahn – in einer Entscheidung steht. Ihr müsst – hoffentlich in Beratung und im Austausch mit euren Lieben – wählen zwischen Alternativen.

  • Wo geht es in Zukunft hin?
  • Woran möchte ich „arbeiten“?

Jedem Ende wohnt dieser eigentümliche Blick auf Neues und Unbekanntes inne. Diese Tatsache sollte euch nicht verunsichern, sondern eure Neugier wecken. Ihr könnt stolz auf das Geleistete zurück und optimistisch, zuversichtlich (und mit Spannung) nach vorne blicken.

Mit dem Erlangen der allgemeinen Hochschulreife stehen euch jetzt alle Türen der Berufs- und „Arbeits-“welt offen. Ihr habt nun eine Chance euch und eure „Arbeit“ in ein richtiges Verhältnis zu setzen, euren Interessen, Wünschen und Visionen nachzugehen. Natürlich sind an dieser Stelle Irrtümer nicht ausgeschlossen, die sich vielleicht erst in ein paar Jahren herausstellen. Aber dies sollte euch nicht entmutigen, denn auch diese vermeintlichen „Fehlentscheidungen“ sind Teil der „Arbeit“, die wir „Lernen“ nennen.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,

Ich wünsche euch und euren Familien alles Gute für die Zukunft. Und hoffe, dass ihr dem Theodor-Heuss-Gymnasium verbunden bleibt, und die „Arbeit“ in diesen Räumen und ihre Akteure in guter Erinnerung behaltet. Ich greife noch einmal, bevor ich schließe, die Anekdote vom Beginn der nun endenden Abiturrede 2012 zum Phänomen der „Arbeit“ auf:

„Das Leben ist eine Baustelle – auch ihr arbeitet daran.“ 

Vielen Dank für die Einladung heute hier sprechen zu dürfen.

Diese Rede wurde von Alexander König geschrieben. Sie wurde 2012 im Rahmen der Abiturfeier des Theodor-Heuss-Gymnasiums in Sulzbach gehalten. [2]Mit Stolz in die Freiheit entlassen, https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/mit-stolz-in-die-freiheit-entlassen_aid-1186521 [Zugriff: 22.04.2021] Der Text steht unter einer Creative Commons-Lizenz (CC BY-SA 3.0 DE) und kann unter Einhaltung bestimmter Bedingungen verwendet werden. Hierzu gehören in jedem Fall die Namensnennung und die Weitergabe unter gleichen Bedingungen. Ein Hinweis auf den Lizenztext (Link) ist notwendig.

Fußnoten

Fußnoten
1 Friedrich Engels: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, online: http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_444.htm [Zugriff: 22.04.2021]
2 Mit Stolz in die Freiheit entlassen, https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/mit-stolz-in-die-freiheit-entlassen_aid-1186521 [Zugriff: 22.04.2021]

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